Gernot Jennerwein
  Geschichten Alltag
 

Traum – Tinte


Manchmal ist es düster und es regnet, und manchmal ...

Ich fragte in unserer Straße ein vierjähriges Mädchen nach seinem bitterlichen Weinen und es antwortete: „Ich habe Zwiebeln geschnitten.“
Das Mädchen schämte sich seiner Gefühle und hatte gehört, dass man vom Zwiebelschneiden weinen musste. Es wurde ihm zur ernsten Ausrede. Jedenfalls dachte das Mädchen, es würde die Erwachsenen damit zufriedenstellen und alles erklären.


Lange Zeit begegnete mir das Mädchen nicht mehr.
Als ich es wiedersah, war das Kind etwa zehnjährig. Es weinte nicht mehr, aber in seinen Augen sah ich kein Glück. „Mein Papa ist auch gegangen“, sagte es.

Es faltete Briefe zu Papierschiffchen und setzte sie in die Bordsteinrinne.
Wie ich eines vor dem Gulli retten und ihm zurückbringen wollte, lief es fort.

 

***


Abziehbilder


Verdammt, wenn ich ein Mädchen gewesen wäre, dann hätte ich vermutlich geheult. Die Wirtschaftskrise brachte mir, wie vielen anderen auch in unserem Betrieb, ein Bedauern der Geschäftsleitung und die Kündigung ein, und zu allem Überfluss hatte mich meine Freundin am Wochenende wegen einem anderen auch noch verlassen. Es ging mir einfach beschissen und ich bemitleidete mich selbst, wie einen schuldlos zum Tode Verurteilten, der den Glauben an die Menschheit verloren hatte. Ich brauchte frische Luft und ging ziellos, und mit meinem gewaltigen Frust im Bauch, durch den Park. Der schnauzbärtige Italiener in seiner Eisbude sah mir die seelischen Qualen wohl an, denn er verzichtete darauf, sein Gelati wie ansonsten in den Himmel zu preisen. Wenn man keine Arbeit hat, dann hat man eine Menge Zeit, soviel Zeit, dass sie bedeutungslos wird. Resignierend setzte ich mich auf eine Parkbank und stützte schwermütig die Kinnlade ab, damit sie mir nicht hinunterklappen konnte. Den Jungen bemerkte ich erst, als ich mich wieder etwas erholt hatte. Er saß ein wenig abseits von mir auf der Holzumrandung des Sandkastens, und allem Anschein nach, ging es ihm genau so dreckig wie mir. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang und sein Weinen entging mir nicht. Er weinte und gab keinen Laut von sich, vermutlich merkte er es nicht mal, so abwesend schien er mir. Was wusste der Junge schon vom Leben, dachte ich, aber wenn ich etwas nicht mit ansehen konnte, dann waren es weinende Frauen oder traurige Kinder. Scheiße, der Knirps tat mir leid, mehr leid, als ich es mir selbst tat.

 

Ich ging zum Sandkasten und setzte mich neben ihn. Mit einer Unbeholfenheit, dass ich mich hätte ohrfeigen können, fragte ich: „Na, mein Kleiner, wie geht es dir?“ Er hob den Kopf und ich blickte in die traurigsten Augen, die ich je gesehen hatte.
„Warum weinst du mein Junge?“ Ich merkte, wie es ihn schüttelte, als er zu sprechen anfing.
Und dann erzählte er mir von der Schule, von der ersten Klasse, in die er ging und von seinen Klassenkameraden, die ihn auslachten und so richtig gemein zu ihm waren. Der Grund dafür wären diese neuen Abziehbildchen, die man in den Geschäften kaufen konnte.
Ich kannte sie noch von meiner eigenen Kindheit her. Man befeuchtete die Haut mit Wasser oder Spucke, legte das Bildchen drauf und zog es nach kurzer Zeit wieder ab, zurück blieb die Tätowierung für den kleinen Mann.
In der Klasse des Jungen waren die Unterarme voll von Drachen, Schwertern und anderen Fantasyfiguren, erzählte er mir. Und seine Mutter kaufte ihm zwei, die ihm so sehr gefielen, dass er eines sogleich auf seinen dünnen Unterarm gepaust habe. Als er dann aber in der Schule voller Freude sein Bildchen zeigte, da wurde er nur ausgelacht und ein großer Junge gab ihm einen Boxer.
„Zeig mal her“, sagte ich und deutete auf seinen Unterarm, den er bisher mit der anderen Hand zugedeckt hielt. Er nahm die Hand weg und das, was ich sah, berührte mich ernsthaft. Der Junge hatte eine kleine Blume auf dem Arm abgebildet. Er sah mich in diesem Moment so offen und ehrlich an, dass es mir beinahe das Herz brach. Was hatte ich Idiot schon für große Probleme. Ich war ein gestandener Mann und konnte damit umgehen, aber dieser Junge da, da war eine Welt zusammengebrochen.
„Hast du das zweite Bildchen noch?“, fragte ich.
Er nickte und holte es aus seiner Schultasche hervor.
„Darf ich es haben?“
Er nickte abermals und zu seinem Erstaunen machte ich meinen Unterarm mit der Zunge nass und legte das Bildchen drauf, als ich es wegnahm, hatte ich ebenfalls eine Blume als Tattoo.
„Ich finde Blumen schön“, sagte ich, und zum ersten Mal in meinem Leben fand ich Blumen wirklich schön. In den Augen des Jungen meinte ich so etwas Ähnliches, wie ein kleines Glück zu sehen.
"Komm, ich spendier dir ein Eis, da drüben", sagte ich und reichte ihm die Hand.
Als ich heute Morgen die Stufen zum Arbeitsamt hochging, hatte ich sein Lächeln immer noch in mir.


***


Free

 

Ich dachte an meine wilden Jahre. An die Freiheit, an das Rebellensein und an meine langen Haare und an den „Easy Rider“.


Behutsam hielt ich den Jungen in den Armen. Er sah mich an. Schöne, klare Augen hatte er, grünblaue, vom Grün ein bisschen mehr. Es war ein hübscher Junge mit hellen Haaren. Die schmalen Lippen bewegten sich. Er öffnete den Mund und gab leise Töne von sich. Ich strich ihm über die Stirn und er sabberte kaum hörbar: „Mam"
Dann nochmals "Mam", und er schloss die Augen. Ich erhob mich und blickte zu dem Motorrad unter dem Lastwagen. Das Martinshorn war verstummt. Jemand schob mich beiseite.


***


Straßenblumen

 

Die große, verzinkte Mülltonne auf dem Handkarren reflektierte das Sonnenlicht und Hans blickte zu den Blumen am Straßenrand. Er mochte die Blumen und die Straßen und die ganze Welt. Stolz trug er die städtische Uniform, und die Menschen grüßten ihn, wie einen geachteten Mann. Hans war glücklich und zufrieden in seiner kleinen Welt.

Der Stein traf ihn mit bissiger Wucht mitten ins Gesicht. Schmerz und Blut mit Schweiß gemischt ließen gleißende Funken in seinen Augen tanzen. An der Bahnstation lachten halbwüchsige Gestalten hysterisch auf und zum ersten Mal wurde Hans vom Zorn geschüttelt.
Er rannte schnell und die Kinder rannten schnell, und der Zug kam rasch und leise.

Bewegungslose Menschen am Bahnsteig. Betroffenes Schweigen. Und ein Hans, der nichts verstand.
Dann ein Rufen: „Der da war’s!"
Sie nahmen ihn mit - für immer.
Heute liegen Blumen da.

 
   
 
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