Gernot Jennerwein
  ... Historie
 

Nur Soldaten


Heimatlose Tote nannte man sie. Die Toten, deren Leichname in der Fremde zurückblieben, weil sie von Granaten zerrissen wurden, oder die Lebenden keine Kraft mehr hatten, ihre Körper zurückzuschaffen. Die Schlachtfelder und Schützengräben waren voll von Heimatlosen, und die Kriegsdenkmäler und Soldatenfriedhöfe sind es noch heute mit ihren Namen. Es waren einfache Soldaten und Menschen, leicht lenkbares Spielzeug der Mächtigen. In der Heimat hatten noble Herren von Heldentum gesprochen und sie an die Front geschickt. Heute, zwischen geklonten Schafen und Raketen, sind sie nur noch das Umblättern weniger Seiten in den Geschichtsbüchern, wo man die Namen der Generäle liest, die Selbstmord begangen hatten, oder mit siebzig, vielleicht achtzig Jahren an Altersschwäche starben. Einfache Soldaten, die in Soldatenkriege ziehen, sterben jung. Als Fraß für die Brut der Fliegen blieben sie im Dreck der Landschaft liegen. Die Trompeten waren aus Blech, die Fahnen auf Halbmast und das Vaterland stolz. Der Krieg steht für den Tod und das Leben hat keinen Platz für tote Helden. Zwischen Wolken fliegen Vögel und nur die Guten sterben jung, sprachen die Alten, weil sie es nicht besser wussten, aber manchmal kehrte ein tot geglaubter zurück, aber wohin zurück?


 
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Nur Kometen

 

Sie sahen zu den Sternen und hielten sich an den Händen. Er sagte zu ihr, dass der Krieg nicht ewig dauere und er bald wieder heimkehre, dass sie auf ihn warten solle und sie nach dem Krieg heiraten wollen. Sie küsste ihn und sagte, dass sie Angst vor dem Krieg habe, ihn liebe und sie warten werde, bis der Krieg vorbei sei und er zurückkehre. Sie träumten in dieser Nacht von der Liebe und dem Glück, schworen sich ewige Treue und ein Komet verbrannte am Himmel, so wie sie immer verbrannten, wenn sie versuchten, näher zu kommen.

Als er damals in den Krieg zog, da wusste er nicht, was es bedeutet, in einem Krieg Soldat zu sein. Aber er war ein braver Soldat und er lernte es schnell, das Töten, ohne nachzudenken, Kameraden und Freunde zu verlieren, ohne sich dabei zu übergeben, oder Tränen zu weinen. Sie bekamen Befehle und führten Befehle aus und sie marschierten nach Osten, immer weiter und immer weiter. Sie waren gehorsame Soldaten. Sie waren gute Soldaten.
Und dann war der Krieg vorbei, und die fremden Soldaten sagten, dass er ein bisschen bleiben und aufräumen solle, seine Schuld abarbeiten müsse. Er wehrte sich ein wenig und wurde gefügig gemacht. Sie behielten ihn lange Jahre in einer Kohlenmine unter der Erde, wo es kein Sonnenlicht gab, nur ein wenig Hoffnung und ein paar Gespenster, die manchmal starben, weil sie keine Kraft mehr hatten, zu leben, oder eine Krankheit sie fraß. Er war abgemagert und seine Haut weiß wie der Schnee draußen, als sie sagten, dass er genug aufgeräumt habe, dass er zurück in seine Heimat gehen dürfe, seine Gefangenschaft nun zu Ende sei, weil alles einmal zu Ende gehe. Er wusste nicht, ob er danke, oder bitte, oder ihr Schweine sagen sollte und ging wortlos davon.
Es vergingen Tage, bald Wochen und er sah seine Heimat wieder, die leuchtenden Sterne und die Kometen, die verbrannten, weil es eben nur Kometen waren, die nicht wussten, dass es gefährlich ist, sich der Erde zu nähern. Er erinnerte sich an die letzte Nacht mit seinem Mädchen und an das Versprochene und er zitterte in seinen Gedanken.
Dann stand er ihr gegenüber und seine Knie wurden weich. Wie schön und erwachsen sie ist, dachte er und stammelte dumme Worte, weil ihm keine besseren einfielen. Die Frau taumelte und musste sich hinsetzen, dann fing sie an zu weinen und sagte, dass sie geglaubt habe, er wäre tot, und dass sie nach langer Zeit der Einsamkeit einen anderen geheiratet habe, Kinder habe, und nun am liebsten sterben wolle. Er sagte, dass es ihm leidtue und es besser sei, wenn er wieder gehe, und er spürte eine brennende Leere in sich aufsteigen. Sie wollte ihn an den Händen zurückhalten, aber er ging davon, ohne noch etwas zu sagen. Er ging dorthin, wo er eine Welt vermutete, in der es keine Kometen gab, die in den Herzen der Menschen verbrannten. In eine tote Welt, wo es nur seine gefallenen Freunde gab.

 

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Der Russe

 

Die Kugel schlägt mit erbarmungsloser Wucht in mein Fleisch und der Schmerz zieht mir die Eingeweide zusammen. Ich breche zusammen, liege im dreckigen Schlamm des Schützengrabens und presse beide Hände auf die klaffende, blutende Wunde an meinem Bauch. Ich höre hysterisches Schreien neben mir, - Sanitäter! Sanitäter! Die nächsten Granatsplitter lassen das Geschrei verstummen. Meine Augen brennen und ich spüre den eisigen Wind, der durch den Schützengraben weht. Ist das jetzt mein Ende? Wird dieser verdammte Graben nun zu meinem Grab? Ich versuche zu kriechen. Es geht nicht, meine Beine lassen sich nicht bewegen, liegen kraftlos im Schlamm. Ich denke an meine Heimat, an die Heimat, die mich in diesen Krieg schickte. Ich werde sie nicht mehr wiedersehen, werde hier im Dreck von Sibirien vergessen sein, so wie einmal der Krieg und all seine Gefallenen vergessen sein werden.

Ich höre Stimmen. Sind es Kameraden? Nein, ich kann die Worte nicht verstehen, es ist Rusky. Jetzt werden sie mir wohl den Gnadenschuss geben, so wie einem räudigen Hund, der sein Fressen nicht mehr wert ist. Ich taste nach meiner Pistole. Ich weiß nicht, wo mein Gewehr ist. Spüre nicht, dass mein Körper auf ihm liegt.

Eine Gestalt verdunkelt den Himmel über mir. Das Maschinengewehr zielt auf meinen Kopf.

"Drück schon ab, verdammter Russe", sagt eine Stimme, die mich erschrecken lässt, als ich merke, dass es meine ist. Sekunden vergehen. Er sieht mich mit seinen stechenden Augen an und sagt etwas auf Russisch, dabei senkt er die Waffe.

Er zerrt mich aus dem Loch, bettet seine Feldtasche unter meinen Kopf und sagt heiser und immer wieder: "Roschdjestwó! Roschdjestwó!"

Als er diese Worte spricht, sehe ich ein kleines, kümmerliches Lächeln in seinem schmutzigen Gesicht. Alles dreht sich in mir. Kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, spüre ich noch,wie mich der Russe zudeckt.

Zwei Tage später komme ich wieder zu mir. Ich bin in einem Feldlazarett. Mein Oberkörper ist in straffe Verbände gewickelt. Ich sehe eine Rot-Kreuz-Schwester, die sich über mich beugt. Langsam fällt mir das Geschehene wieder ein. Der Schützengraben, mein Fallen, der Russe und seine Worte, die ich niemals vergessen werde.

"Schwester, können Sie Russisch", stöhne ich.

"Ja, ein wenig, aber Sie sollten nicht sprechen."

"Sagen Sie mir bitte, wie lautet das deutsche Wort für Roschdjestwó?

"Das bedeutet auf Deutsch Weihnachten, und das hatten wir ja vorgestern, aber nun wird geschlafen."

Ich schließe meine Augen, sehe das Russengesicht vor mir und flüstere: "Roschdjestwó, Roschdjestwó."

 

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Radetzkymarsch


Ich bin ein Soldat, aber es ist kein Krieg für mich da. Jeden Tag wichse ich mein Gewehr und warte auf den Krieg. Der Großvater in Uniform hängt an der Wand und mein Vater betet zu Sonnabend vor ihm, wie es die Kameraden tun. Aber wiewohl der Vater ohne allzu viel Unterscheidungen der Würde unter uns lebt, ist er doch etwas ganz anderes, als es der Großvater war. Der Vater war geflohen vor der Fahne. Die Mutter hatte es heimlich erzählt. Im letzten Krieg, als der Kaiser rief, grub er ein Loch unterm Hühnerstall. Zwei auf zwei Meter soll’s gewesen sein. Acht Wochen wär er in dem Loch gelegen, der feige Hund. Als Kind war ich dabei, als eine Abteilung des Kaisers kam und nach ihm zu suchen begann. Tot sei er, hatte die Mutter zu ihnen gesagt, und ich hab’s geglaubt und die Soldaten gingen davon, nur einer blieb eine Zeit lang und hat mit der Mutter geschrien, oben im Zimmer. Und dann war der Krieg vorbei und der Vater auferstanden. Er hat gesagt, er wär an der Front gewesen, aber ich hab’s nicht geglaubt, weil ich das Loch sah und den Haufen Knochen von den Hühnern.
Der Kaiser ist dann gestorben und ich bin größer geworden. Ich bin der Partei beigetreten; wir treffen uns jeden Abend und warten auf den Befehl, die Grenze zu überschreiten. Ich bin bereit, und wenn wir marschieren, dann werd ich den Vater zuvor noch erschießen, denn der ist wohl nichts wert, und ich brauch mich nicht mehr zu schämen.

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Sein großer Freund

 

Der Lehrer holte den Jungen nach vorne und befahl ihm, dass er sich zu seinen Mitschülern umdrehen solle. Dann fragte er ihn, warum die Hausaufgabe nicht gemacht sei. Der Junge antwortete leise, dass er sie vergessen habe. Der Lehrer schlug mit der flachen Hand zu. Tapfer gab der Bub keinen Laut von sich. Die Mitschüler sahen gebannt auf das Szenarium und lange Sekunden vergingen in der drohenden Stille. Der Lehrer wiederholte seine Frage. Ängstlich kam dieselbe Antwort. Nach der zweiten Ohrfeige konnte der Junge die Tränen nicht mehr zurückhalten und sie rannen über seine roten Wangen. Er durfte sich wieder setzen.
Der Knabe war ein schlechter Schüler – im Unterricht fehlte es ihm an der nötigen Aufmerksamkeit. Er war ein Träumer. Einer, der gern an den Blumen roch und nicht an die Ernsthaftigkeit des Lebens dachte.
Sein ein Jahr älterer Bruder war hingegen ein Schüler, der nur gute Noten schrieb.
Den Erziehern spielte es keine Rolle.
Aber dann geschah etwas Seltsames. Im zweiten Semester des vierten Schuljahres brachen die Leistungen des älteren Knaben so sehr ein, dass er sitzen blieb. Sein kleiner Bruder rückte mit unsäglicher Mühe vor, und somit gingen die Brüder im Folgejahr in dieselbe Klasse.
Der älter Junge zeigte seinem Bruder, wie man mit den Lehrern, den Methoden und den Schulaufgaben zurechtkam, und der Kleine schaffte das Jahr mit durchschnittlichen Zensuren. Sein großer Bruder schrieb die besten, die je in die Chronik dieser Schule eingegangen waren.
An einem warmen Augusttag saßen die Brüder später einmal nebeneinander auf einem Baum und der jüngere fragte den älteren beiläufig, warum er das Jahr zuvor sitzen geblieben wäre, er sei doch so klug.
Dieser lächelte und meinte, dass er in der Vierten eben etwas Wichtiges vergessen habe, aber dass nun Ferien seien, und dass man nicht über die Schule sprechen, sondern lieber Fischen gehen wolle.

 

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