Gernot Jennerwein
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Willkommen auf der Seite meiner eigenen Texterei.

                               


Ich möchte hier Interessierten einen kleinen Einblick in die Welt der Literatur geben, so wie sie mir gefällt. Alle hier veröffentlichte Texte sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, in meinem Denken entstanden, und somit mein geistiges Eigentum.
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Sonntag 11.10.2015

Der Junge, der von den Sternen kam


Nun ist auch "Der Junge, der von den Sternen kam" im Verlag und Buchhandel erhältlich. Die wunderschönen Illustrationen von Claudia Meinicke machen das Buch zu etwas ganz Besonderem.




  • Gebundene Ausgabe: 52 Seiten
  • Verlag: Verlagshaus el Gato; Auflage: 1., erste (30. September 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 394359694X
  • ISBN-13: 978-3943596946
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 5 Jahren
  • Größe und/oder Gewicht: 22,5 x 1,2 x 26,6 cm


Bestellungen beim Verlag unter: http://verlagshaus-el-gato.de/Verlag/product_info.php?products_id=67&osCsid=cbqe0lqpg5rnobregpbsae47f3

Amazon:
http://www.amazon.de/Der-Junge-von-den-Sternen/dp/394359694X/ref=pd_rhf_dp_p_img_1?ie=UTF8&refRID=1YQE6K5YGEW3N6FWSE9W




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Dienstag 07.10.2014

Der Trompetenspieler

In wenigen Tagen ist das Buch "Der Trompetenspieler" beim Verlag und im Buchhandel erhältlich. Es war eine lange Reise, anstrengend, mühsam und manchmal zum Verzweifeln. Monatelang arbeiteten Gabriele Meinicke und ich an den Illustrationen. Sie war die Künstlerin, und ich der Mensch, der versuchte, die Bilder in seinem Kopf an sie weiterzugeben. Was war sie mir für eine treue Gefährtin, all die Wochen und Monate, fast ein ganzes Jahr über, und bestimmt war diese Zeit nicht immer leicht für sie. Jetzt ist es aber endlich soweit und wir hoffen, dass ganz viele Menschen sich an unserem Buch erfreuen.




 
Gebundene Ausgabe: 60 Seiten
Maße: 215 x 255 mm
Verlagshaus el Gato (15. Oktober 2014)
ISBN-10: 3943596699
ISBN-13:
978-3943596694

Beim Verlag bestellen unter: http://verlagshaus-el-gato.de/Verlag/product_info.php?cPath=1&products_id=7


Bei Amazon bestellen unter: www.amazon.de/Trompetenspieler-Gernot-Jennerwein/dp/3943596699/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1412398284&sr=1-1&keywords=der+trompetenspieler

Preis: 19,90 Euro


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Montag 15.10.2012


Überzählig



Auf der Bordsteinkante unserer Straße saß gestern Abend ein Clown. Er saß mit dem Rücken angelehnt an dem hochragenden Mast eines Straßenlichts, das über ihm der einfallenden Dunkelheit Paroli bot und ihn zu einer farblosen Gestalt retuschierte. Bloß die kugelförmige Pappnase in seinem Gesicht, sie blinkte ständig rötlich auf, schwach, wie ein kaum wahrzunehmendes Signal. Sein kariertes Hemd stand vier Knöpfe weit offen. Auf der Brust, die sich bei jedem Atemzug beachtlich hob und senkte, lag wie hingestreut eine welke Rose. An den Füßen trug er schwarze, an den Spitzen eingeknickte Schuhe. Die Hose war aus Segeltuch gefertigt, sie hätte Platz in sich gehabt für zwei, oder gar drei von seinem Schlag. Mit der rechten Hand hielt er den Griff einer auf seinen Schenkeln ruhenden Rätsche, ein einfaches Holzinstrument, das, wird es einmal in Bewegung gebracht, außer Krach nichts zustande bringt. So saß er ruhig da, wobei der Abendwind sein Haar verwehte.
In Anbetracht seiner Deplatzierung hätte man auf den Gedanken kommen können, er wäre gerade aus einem Zirkuswagen gefallen. Ein durchaus durch Nichts zu erschütternder Mensch, der geduldig darauf wartete, von seiner Sippschaft wieder eingesammelt zu werden. Doch welcher Zirkus fuhr schon auf unserer abgelegenen Straße. Der Gedanke war der Realität zu sehr abhandengekommen, ich verwarf ihn, noch ehe er zu Ende gedacht. Während ich mir selbst eine Erklärung schuldig blieb, kam ein kleiner Junge des Weges gelaufen. Er trug in seinen ausgestreckten Händen ein elektrisches Spiel, er war blass im Gesicht und ganz darin vertieft. Ihm blieb nichts anderes übrig, als über die fast zu spät bemerkten, weit in die Straße reichenden Beine des überzähligen Menschen hinwegzusteigen. Da wurde der Clown auf einmal lebendig, er blickte an dem Jungen hoch und die Rätsche wurde von seiner Hand mit einer rotierenden Bewegung ausgeführt. Das Knattern war jedoch von kurzer Dauer. Mit Erstaunen sah ich, wie die Rose auf dem Clown zu glühen begann, zweimal schnell aufeinander. Der Junge aber schenkte dem keine Beachtung, seine Schritte trugen ihn fort, so wie sie ihn gerade gebracht hatten, unpersönlich hallten sie wie in einem Stiegenhaus. Es dauerte nicht lange, und ein Mädchen trippelte daher, unnatürlich, wie der Junge zuvor, als wandelten beide im Schlaf. Das Mädchen war wie der Junge am Spielen. Und wieder begehrte das menschliche Hindernis auf, doch erneut umsonst.
Als ordnungsliebender Mensch hatte ich jetzt aber genug, weit hinaus lehnte ich mich aus dem Fenster.
„Was treibst du eigentlich da unten, du Clown?“
Er sah hoch zu mir und rief ganz laut: „Sehen Sie es denn nicht, Sie Narr, ich verende!“



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Samstag 25.08.2012



Sommertage



Früher, wenn’s heiß war, gingen wir oft ins Park - Bad. Dort gab's eine Eisbude mit Softeis aus der Maschine. Sie hing an der Wand und sie war laut, wenn ein Mädel den Knopf drückte und das Eis auf die Tüte quoll. Es gab Vanille oder Erdbeere oder beide Sorten gemischt. Meistens waren es zwei Mädchen, die dort arbeiteten, eins kassierte und das andere gab das Eis heraus aus der kleinen Luke. Hübsche Mädels, Ferialarbeiterinnen, die immer guter Laune waren und kicherten, auch wenn sie schwitzten. Wir standen Schlange, unsere Lippen waren blau, der eine oder andere von uns zitterte sogar, weil er schon den ganzen Tag über im Wasser gewesen war. Wenn wir gar richtig zu frieren begannen, legten wir uns auf die Steinplatten am Beckenrand. Der gleichmäßige Lärm ringsum machte uns ganz schläfrig, bis einer von uns wieder erneut ins Wasser sprang und wir mit Jubelgeschrei folgten.
Jahre später ging ich nicht mehr dort hin, sondern lieber an den Rhein oder in die Berge an die kalten Stauseen, weil’s dort ruhiger war und Fische gab, und dann fischte ich und sprang ins Wasser, wenn’s mir zu heiß war.
Gestern ging ich aber wieder einmal ins Freibad. Ich hatte es meinem Neffen versprochen. Ich zeigte ihm, wie man schwimmt und vom Sockel springt, und ich machte das Kasperle auf dem Sprungbrett. Wir lachten, wir hatten richtig Spaß, und auch die anderen Kinder lachten und freuten sich, eine ganze Schar Rotznasen stand um mich, wenn ich aus dem Wasser trat. Als wir später ausruhten, schob eine Frau einen etwa zwölfjährigen Jungen im Rollstuhl an uns vorüber. Der Junge tat mir leid, ich wollte ihn trösten, irgendwie, aber dann sah ich in sein Gesicht. Er lachte; er lachte, wie die anderen Kinder es taten, obwohl weit und breit kein Kasperle war.




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Samstag 28.04.2012


Der Gassenläufer



Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht den gleichen Weg auf mich nehme. Er führt mich durch eine Gasse, die sich zwischen dem bloßen Mauerwerk der Stadt um ein paar abgeschürfte Ecken biegt. Sie ist recht schmal, doch sieht man an ihren Wänden hoch, will sie gar nicht mehr aufhören, sodass man glaubt, kein Regentropfen wird jemals auf das Pflaster fallen. Es ist nicht hell in der Gasse aber auch nicht dunkel, es ist weder Tag noch Nacht, es ist ein Zwielicht, das nicht zu bestimmen ist und auch keine Bedeutung hat. Ich gehe immer alleine auf meinem Weg. Begegnet mir ein Mensch, so senke ich mein Haupt, als verbeugte ich mich. Aber keineswegs weil ich mich vor ihm fürchte, o nein, es ist ein viel größeres Leid, für das ich mich schon seit meiner Kindheit schäme: Von Natur aus habe ich keine Nase im Gesicht und auch die Oberlippe fehlt mir zur Gänze. Ein rosa Schlund, der an seinen Rändern leicht entzündet ist, tut sich stattdessen zwischen meinen Wangen auf, durch den der Betrachter bis in meine Seele schaut, selbst wenn er es gar nicht wünscht. So ist es wohl verständlich, dass ich mein Gesicht vor den Menschen verberge, damit sich niemand über meinen Anblick beschweren möchte.
Es ist spät, nur wenige Menschen kreuzen meinen Weg. Ich gehe an dem Modelleisenbahngeschäft vorüber; der Laden ist seit Jahren geschlossen, an der Jalousie hängt der Staub in Fäden herab. Wenige Schritte weiter wird es hell, dort sehe ich eine junge Frau im Licht. Sie ist in einen schwarzen Lackmantel gehüllt, in der linken Hand hält sie einen Regenschirm, der leicht nach außen gedreht auf der Spitze steht. Auf freche Art trägt sie ein französisches Käppchen, ihr gelocktes Haar ist feuerrot wie die untergehende Sonne an einem Abend im Sommer. Sie lächelt. Es ist ein wehmütiges Lächeln, das alle Scheu von meinem Herzen nimmt. Ruhig schaut sie in meine Wunde. Ihr Blick dringt tief in mich ein, doch scheint er in meinem Innern nicht zu verbleiben, gläsern durchbricht er mich und sucht immer weiter, bis er sich in meinem Rücken verliert in einer anderen Welt. Ich weiß von dieser Welt, manchmal sehe ich sie in meinen Träumen, sie ist so leicht und unbeschwert aber unendlich fern meinem Leben. Ich schließe die Augen, wende mich ab und gehe weiter. Die Frau weiß von meinen Träumen, vielleicht wird sie mich einmal an die Hand nehmen und dorthin begleiten, vielleicht schon morgen. Und morgen werde ich wieder durch die Gasse gehen und mich vor den Menschen verbeugen, bis ich vor dem Licht stehen und hoffen werde - auf das Fräulein im Schaufenster der Boutique.




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Montag 19.Dezember 2011


Im Weihnachtshimmel




In der Dunkelheit am frühen Weihnachtsabend konnte man das kleine Haus schon aus weiter Ferne erkennen. Gedämpfter Lichtschein aus einem Fenster ließ es aussehen wie eine Laterne im Schnee. Das Häuschen stand ein wenig schief, das Holz trug schwer am Schnee auf dem Dach und von Zeit zu Zeit da krachte es im Gebälk.
Eine alte Frau wohnte in dem Haus. Sie war recht mager und manchmal zitterten ihre Glieder. Sie saß bei Tisch, die Hände hatte sie in den Schoß gelegt und sie betrachtete ihren winzigen Weihnachtsbaum, an dem drei Kerzen brannten. Aus dem Radio auf der Kommode klang Musik, ein Chor sang von der schönen Weihnachtszeit. Die Frau dachte daran, wie es früher einmal gewesen war. Sie dachte an ihren Mann Albert, an ihre beste Freundin Anna, und an ihren Sohn, den Toni, der in jungen Jahren verstorben war. Sie dachte an all die Menschen, die ihr im Leben nahegestanden und schon längst von ihr gegangen waren. Nur die Erinnerungen waren ihr geblieben. Sie senkte den Kopf, ihre schmächtigen Schultern begannen zu zucken, und dann fing sie an zu weinen. Es war kein lautes Weinen, keinen Ton gab sie von sich, sie machte nie einen Lärm, ihr Wesen war still und ruhig. Oft fragte sie sich, weshalb das Schicksal ihr die Last der Einsamkeit auferlegt hatte, und dann wurde sie sehr traurig.
Ein Klopfen an der Tür holte die Frau aus ihren Gedanken. Erschrocken wischte sie mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. Sie erhob sich, ging zaghaften Schrittes an die Tür und öffnete diese.
Ein Junge stand ihr gegenüber. Unscheinbar von Statur, mit blond gelocktem Haar und strahlend schönen Augen in einem zarten Gesicht.
„Du bist Ida“, sagte er.
„Ja, ich bin Ida“, überrascht sah sie den Jungen an, „und wer bist du?“
„Ich bin Michael“, erwiderte der Junge.
„Michael?“
„Ja, Michael 154“, lächelte er.
„154? Was bedeuten die Zahlen? Das ist doch kein Name.“
„Doch, das ist mein Name. Michael 154, weil ich als der 154. Engel mit dem Namen Michael das Licht des Himmels in diesem Jahr erblickte“, antwortete der Junge vergnügt.
Ida staunte. „Was kann ich für dich tun, Michael?, fragte sie ernst und sah den Jungen fest an.
„Sie haben gesagt, ich soll dich abholen.“
„Wer hat das gesagt?“
„Nun, Albert, Anna, Toni und all die anderen.“
Ida wurde blass. „Wie soll das gehen?“
„Es ist ganz einfach“, sagte Michael, „gib mir deine Hand und schließe deine Augen.“
Ida wusste nicht so recht, was hier geschah, aber sie tat, wie ihr geheißen.
Wärmend spürte sie die Hand des Jungen nach der ihren fassen, und auf einmal, da fühlte sie sich ganz leicht. Nach kurzer Zeit hörte sie Michael sagen: „Mach sie wieder auf, deine Augen, mach sie wieder auf.“ Ida gehorchte seinen Worten. Geblendet blinzelte sie in eine Welt, die aus gleißenden Lichtern und funkelnden Sternen zu bestehen schien. Ida sah sich um und glaubte zu träumen. Sie befand sich in einem festlich geschmückten Saal, der voll von Menschen an reichlich gedeckten Tischen war. Ein Weihnachtsbaum stand in der Mitte, eine mächtige Tanne, mit saftig grünen Nadeln an Ästen und Zweigen, an denen Hunderte Christbaumkugeln schwebten, die den Lichtschein der Kronleuchter tausendfach zurückwarfen, Kerzen, die in allen Regenbogenfarben schimmerten und lieblich brannten, und darunter waren spielende Kinder, die lachten. Und da! Da standen ihr geliebter Albert, die Anna, der Toni und ringsum sah sie lauter Gesichter, die sie kannte.
Michael ließ ihre Hand los. „Nun geh schon, sie warten auf dich.“
Und Ida ging zu den Menschen, die sie liebte.
Sie fiel ihnen glücklich in die Arme, fand jedoch keine Worte, so sehr war sie angetan, doch bald erzählte sie, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen war und jeder wollte sie daraufhin berühren, ihr eine kleine Zärtlichkeit schenken. Später saßen sie an der üppigen Tafel zusammen, naschten von all den Köstlichkeiten, tranken süßen Wein und ihr Gesang war so hell und melodisch, wie sie selbst es noch nie gehört hatten.
Ida erlebte das schönste Weihnachtsfest. Überglücklich weinte sie Tränen der Freude. Aber sie wusste, alles ging einmal zu Ende.
Gegen Mitternacht kehrte sie zu Michael zurück, der dem Fest etwas abseits beigewohnt hatte. Ida versuchte die Traurigkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken, was ihr aber nicht so recht gelang, als sie sagte: „Michael, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann. Du hast heute Abend meinem Herzen das größte Glück geschenkt und mich meine Lieben sehen lassen. Aber nun ist es spät und du wirst mich wohl wieder zurück nach Hause bringen müssen.“
Michael schaute sie mit seinen gütigen Augen an. „Nein, Ida. Dein Zuhause ist jetzt hier bei uns. Ich habe dich auf der Erde abgeholt, weil dort deine Zeit abgelaufen war. Du bist jetzt im Himmel und wirst es auch bleiben.“

Es war nach Mitternacht, als in dem kleinen, schiefen Haus auf der Erde die drei Kerzen am Weihnachtsbaum für immer erloschen.


 

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Samstag 03. Dezember 2011






 
Wenn wir früher zu Weihnachten durch die Gassen liefen, ich mit müden Beinen an der Hand meiner Mutter hing, wir an den Schaufenstern fliehenden Schrittes vorbeieilten, so dass mir keine Zeit blieb, das süße Weihnachten hinter dem Glas zu betrachten, und ich meine Mutter fragte, weshalb wir so schnell des Weges ziehen, dann antwortete sie mir stets: "Das Christkind ... vielleicht  wartet es schon in unserem Zimmer."
 


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Montag 26. September 2011
 

Bergluft


 
Manchmal steige ich auf den Berg, wegen der Gletscher, der Felsen und des Friedens, der dort oben ist. Vor dem Gipfel ist eine Alpen-Vereinshütte. Da sitzen bei Schönwetter die Wanderer mit ihren Fotoapparaten und kleinen Rucksäcken im Freien, ruhen sich aus und essen Schweinsbraten mit Sauerkraut und trinken Bier dazu.

Die Frau saß mit zwei Männern am Tisch neben der Fahnenstange. Ihr Kirschmund zog an einer dünnen Zigarette, die sie mit spitzen Fingern hielt. Ich fragte, ob ich mich zu ihnen setzen dürfte, weil es so heiß sei und ich auch ein Bier trinken wolle. Sie nickten freundlich und rückten zusammen. Der mit dem grauen Bart und der hohen Stimme meinte, dass sie aus München kämen, hier Kurzurlaub machten, dass sie unten im Tal in einem Hotel wohnten und heute Morgen zur Hütte aufgestiegen seien, und wie schön es hier sei. Dann haben sie sich weiter unterhalten und ich hab zugehört und zu allem genickt, als würde ich mich auskennen. Ich erfuhr, dass sie in zwei Wochen nach Mailand fahren werden, zu Dreharbeiten.
Deshalb ist sie so wundervoll, dachte ich, weil sie eine Filmschauspielerin ist, und ich fragte die Frau, ob ich ihr in den nächsten Tagen die Berge zeigen solle und die Sterne bei Nacht, die hier oben unbeschreiblich nahe und schön seien. Sie lächelte, dann schaute sie in einen kleinen Spiegel und sagte, dass ich niedlich sei, aber eben nur ein Cowboy, und dass sie sich die Sterne lieber von einem Astronauten zeigen lassen wolle. Ich fühlte mich auf einmal unwohl und sagte tschüss, und dass ich gehen müsse.
Am frühen Abend begegneten mir die Münchner nochmals, weit ab vom Wanderweg. Der Kerl mit der hellen Stimme war schlecht gelaunt. Er fuchtelte mit einer Landkarte herum und sagte, dass er mir Geld gäbe, wenn ich ihnen den Weg ins Tal zeigen würde. Ich dachte an die vielen Wegmarkierungsschilder, die wie die Schwimmpfosten aus der Landschaft ragten, und sagte, ja freilich, und er müsse mir deswegen kein Geld geben, auch wenn‘s ein Umweg für mich sei.
Ich brachte sie bis zu ihrem Auto und fragte, ob sie mich noch ein Stückchen mitnehmen könnten, denn ich wäre spät dran. Da meinte der Typ mit der Mädchenstimme, das gehe leider nicht, das ganze Gepäck sei im Auto und kein Platz für mich frei, und dann lachte er, küsste die Schauspielerin auf den Mund und sie fuhren mit dem leeren Auto davon. Ich habe ihnen noch eine Zeit lang nachgeschaut, mich über sie gewundert, und bin heimwärts gegangen.


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Tränenland


Viele Jahre sind vergangen, aber noch heute denke ich manchmal zurück an meine Kinderzeit und an meinen Freund, den Elefanten. Ich habe dem Elefanten nie einen Namen gegeben, obwohl er stets bei mir schlief, in den Nächten, wenn ich alleine war. Es war kein großer Elefant, nein, er war klein, kleiner als ein Fußball und er hatte ein Fell, ein graues, weiches Fell. Seine schwarzen Knopfaugen schauten traurig in die Welt und manchmal weinte der kleine Elefant sogar. In vielen Nächten tröstete ich ihn und wir weinten oft zusammen. Es war ein Zauberelefant. Ich hab das gewusst. Wenn es dunkel war und ich schlecht geträumt hatte, sagte er unter der Decke zu mir: "Es ist alles gut, alles ist in Ordnung, alles ist ok.“ Ich hab mich dann nicht mehr gefürchtet, nur noch ein bisschen vielleicht.

Wenn ich später, während der Ferien in meiner Schulzeit, als Hirte auf dem Berg mit dem mir anvertrauten Vieh den Tag alleine verbrachte, in den langen Stunden der Nacht hinauf in den Himmel sah, dann glaubte ich nicht daran, dass da draußen alles so kalt sein konnte, wie man es mir in der Schule beigebracht hatte. Ich dachte an den Sinn von allem Leben, an das ewige Sein des Universums und an den Friedhof unten im Dorf. Ich erinnerte mich dann an die Geschichten, die ich gerne hatte, an Peterchens Mondfahrt, an den kleinen Prinzen und freute mich dabei. Aber in einem Jahr, die Schwalben waren bereits in den Süden geflogen, da starb mir ein lieber Mensch. Es machte mich zu einem Mann. Zu einem Mann, der vergessen hatte, wie man lachte oder weinte.

Aber die Schwalben kehrten zurück, und als du die Frau an meiner Seite wurdest, wusste ich auf einmal wieder, wie gut das Leben zu einem Menschen sein konnte, wie viele Sterne am Firmament leuchten und dass es Engel im Himmel gibt. Wie waren die Tage im Frühsommer schön, wenn wir barfuß dem Seeufer entlang im Wasser gingen. Wir zusammen den Sonnenuntergang betrachteten, ich dich neckte, wie ein verspieltes Kind, bis ich meinen geforderten Kuss bekam. Du hast dabei gelacht und mich "mein Großer“ genannt.
Einmal, es war finster und bei Sturm, als das Geäst der Bäume laut an das Fenster schlug und am Abend der Regen kam, sprach ich leise von den Geistern der Nacht, von den toten Soldaten, die vor langer Zeit in der Dunkelheit zu mir ans Bett gekommen waren, um mir ihre Geschichten zu erzählen. Du hast mich zärtlich angesehen, und von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich dich liebe. Du nahmst mich in deine Arme und sagtest: "Es ist gut, alles ist in Ordnung, alles ist ok.“

Ich sehe zum Himmel, strahlende Kinder mit Flügeln auf dem Rücken halten Trompeten an ihre Münder, dabei höre ich dumpfes Orgelspiel aus den Mauern. Kerzen brennen, alte Frauen verbergen ihre Gesichter in den aufgeschlagenen Händen, weiße Blumen liegen verstreut. Ein Mann spricht Worte, die ich nicht verstehe. Ein Mädchen mit einer Gitarre trägt das Haar zusammengebunden, es singt mit heller Stimme ein Lied von einem Herrn im Himmel und sieht mich dabei fortwährend an. Leise spreche ich: "Was ist tot sein, weshalb sagt mir das niemand?“ Ich wende mich ab und verlasse die Kirche. Einen Tag und eine Nacht fahre ich ohne Unterbrechung mit der Eisenbahn.
Das Haus liegt auf dem Lande zwischen Weizenfeldern und Rapswiesen. Es ist alt und nicht mehr bewohnt, eine Seite abgebrannt. Auf dem Dachboden ist es heiß, das Gebälk kracht unter meinen Schritten. Eine große, verstaubte Schachtel ziehe ich aus einem Winkel hervor. Meine Hände graben in der Zeit, bis ich ihn in den Händen halte und ihn tröste, meinen kleinen Elefanten.

 
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Donnerstag 25. Novenber 2010

 

Der Trampelmann
 

Mein Zimmer misst fünf auf fünf Meter, es ist recht einfach und gewöhnlich. Das Bett, das mir in meiner täglichen Betrachtung umwerfend in die Augen springt, steht in einer Ecke. Ihm gegenüber ist ein Tisch, auf dem inmitten einer großen Unordnung meine Schreibmaschine ruht. In der Nacht fällt durch das Fenster Laternenlicht, eine Spelunke verbreitet außer montags Tanzmusik.
Wenn ich abends müde und ausgebrannt zu Bette gehe, mich schwerlich meiner Kleidung entledige, ist endlich Ruhe für mich eingekehrt. Meist währt mein Wohlbefinden aber nur für eine kurze Weile, spätestens zu Mitternacht kommt Herr Trampelmann zu Besuch. Trampelmann ist ein kleiner, unscheinbarer Mann. Geduldig wartet er darauf, dass ich mich in meinen Träumen winde, um mich aus diesen hervorzuholen, wie ein Lehrer seinen Schüler aus der letzten Bank.

Trampelmann sitzt auf meinem Bauch und klopft mit geballten Fäusten gegen den Hohlraum unter meiner Haut. Man könnte meinen, er ist eine Maschine mit Batterien, so unermüdlich ist sein Drängen. Dumpf trommeln seine Hände und ich höre dem Klopfen zu, bis es mir verleidet und ich meine Augen öffne.
„Nein, du schon wieder“, brumme ich.
„Was brauchen Sie doch für eine lange Zeit, Sie verschlafener Mensch! Meinen Sie, ich habe meine Tage gestohlen? Ich erbitte Sie, mich in Zukunft nicht mehr so lange warten zu lassen, oder denken Sie vielleicht, ich hätte nichts Besseres zu tun, als mich mit Ihnen abzuplagen?“, wirft er mir ungehalten und spitz entgegen.
„Sag mir, du seltsamer Kerl mit den Manieren eines Lohnkutschers, kannst du mich denn niemals in Ruhe lassen?“, erwidere ich halb im Schlaf.
Er mustert mich giftig und fährt beinahe beleidigt fort:
„Wie Sie sicherlich wissen, aber es sich selbst nicht eingestehen, ist es von größter Wichtigkeit, dass ich hie und da nach Ihnen schaue. Wäre dies nicht der Fall, und das können Sie Tollpatsch mir glauben, wird es wohl bald ein schlimmes Ende mit Ihnen nehmen.“
Ich drehe mich mit einem Ruck auf die Seite. Trampelmann fällt mit einem wüsten Fluch von meinem Bauch herab und, dem Himmel sei's gedankt, nichts ist mehr von ihm zu hören. Ich schließe meine Augen und versuche nicht mehr an ihn zu denken.
Da fängt er an, mit seinen Füßen gegen meine Gedärme zu treten.
„Was trampelst du nun schon wieder?“
Kaum habe ich mich zurück auf den Rücken gedreht, sitzt er auch schon wieder auf meinem Bauch.
„Jetzt hören Sie einmal zu, Sie unhöflicher Mensch. Es ist von größter Wichtigkeit!“
Er unterstreicht seine Worte mit weit ausholenden Händen.
„Sag endlich, was du willst? Sprich dich aus und verschwinde.“
„Ich habe soeben Ihren Text gelesen, ich meine den, den Sie heute geschrieben haben, auf dem Schreibtisch da zwischen dem anderen Papier fand ich ihn, Sie konnten ihn gar nicht gut genug verstecken, Sie Banause. Sie dachten wohl, er würde mir entgehen, aber Sie haben sich geschnitten. Grässlich, ich sag, einfach nur grässlich, haben Sie es denn nicht gehört?
„Was ist grässlich?“
„Der Lärm! Sie machen einen Lärm in Ihren Geschichten, dass ich mich, würde ich in Ihrer Haut stecken, schämen müsste.
Ich habe, und das können Sie mir glauben, in meinem ganzen Leben noch nie so einen fürchterlichen Lärm gehört, wie er in Ihren Texten zu lesen ist. Weshalb machen Sie immer so viel Krach in Ihren Geschichten? So wie Sie schreiben, schreibt kein gescheiter Mensch.“
Trampelmann greift mit flinken Fingern unter seinen Rock und holt ein zusammengehaltenes Stück Papier hervor. Bedrohlich fuchtelt er damit vor meinem Gesicht.
„Hören Sie es? Hören Sie, was ich meine?“
„Nein, ich höre es nicht.“
„Das ist ja unerhört, Sie Tennendrescher. Sie scheinen mir nicht nur blind, sondern auch noch taub zu sein.“
Er zerreißt das Papier in zwei Teile, hält die Stücke an meine beiden Ohren und raschelt damit unaufhörlich.
„Hören Sie es jetzt, Sie Tölpel?“
„Ja, ich höre es und nun gib endlich Ruhe, ich möchte schlafen.“
„Heute verschone ich Sie noch einmal, aber ich warne Sie, wenn Sie morgen wieder so einen Lärm schreiben, dann komme ich wieder, und dann Gnade Ihnen Gott, denn es könnte sein, dass ich Sie zu Tode trampeln werde. Sicherlich könnte man der Welt keinen größeren Dienst erweisen. Und nun schlafen Sie, ich hab für heute genug von Ihnen.“


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Samstag 23. Oktober 2010



 Traumsucher


Als gegen Mitternacht eine finstere Gestalt über die Brücke am Stadtrand schlich, vorbei an den zwei Türmen, zwischen den Häusern durch alle Gassen glitt, von einem Schatten in den nächsten springend, mit größter Sorgfalt darauf bedacht, nicht offensichtlich zu sein, fiel der Mondschein nur spärlich durch den lichten Nebel herab.

Ein derbes Knirschen und Wetzen machte sich auf dem Trottoir unter den Schritten des eigenartigen Fremden breit, dessen Gehabe dem eines diebischen Halunken glich. In seinem Vorwärtsdrängen zog er das verkrüppelte Bein schleifend hinterher sich her, jedoch schienen die vollführten Bewegungen mit einer gewissen Leichtigkeit vonstattenzugehen, obwohl es mehr ein Hüpfen als ein Laufen war. Sein zischender, beinahe pfeifender Atem hing gedämpft in der Luft. Er konnte den Kopf nicht hoch genug halten, schaute prüfenden Blickes nach links und dann wieder nach rechts, von einem Haus zum nächsten, von den Fundamentmauern bis hinauf zu den Giebeln und allen Dächern.

Nach einem Weilchen, eine Glocke in der Ferne besiegelte soeben die vollendete Stunde, hatte der düstere Kauz das Stadtviertel der Handwerker und des einfachen Gesindes erreicht. Ein lauerndes Kätzchen zuckte in den Gliedern zusammen, duckte sich und in schnellster Flucht sprang es an einem Stalltor durch ein Loch im Gehölz. Da blieb der Unheilvolle stehen, mit beiden Händen den Überrock zur Glätte streichend, als wäre er zufrieden und als hätte er endlich gefunden, was sein Suchen begehrte. Verstohlenen Blickes sah er sich um. Niemand beobachtete sein nächtliches Treiben. Eng hielt er die eine Gesichtshälfte an das Mauerwerk des vor ihm befindlichen Gebäudes und lauschte mit verzerrtem Munde. Nach nur kurzer Zeit schmatzte er genüsslich.

Wie ein Spinnentier kletterte der Fremde am ausgewählten Haus empor, bis er an einem geöffneten Fenster angekommen war. Seine Augen begannen zu glänzen, als er das Kind friedlich in seinem Bettchen schlummern sah. Ohne Lärm stieg er über die Brüstung in das Zimmer hinein.
Die Wangen des Jungen waren gerötet, der Mund ein wenig geöffnet, wobei über ihm, kaum zu erkennen, ein kleiner Traum unterhalb der Decke schwebte.
Entzückt, begann der nächtliche Besucher mit seinen Augen zu rollen. Ein gequältes Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er sah, dass der Knabe in seinem Schlafe lächelte.
Da holte er einen Sack aus seinem Rock hervor und stülpte ihn behutsam um den Traum. Mit ungeschickten Fingern knüpfte die nun vor Erregung zitternde Gestalt den Sack mit einem dünnen Strick zusammen und verließ, ohne weitere Umstände zu machen, mit dem gestohlenen Gut den Raum und suchte schleunigst das Weite.

Der Morgen graute bereits, als der Dieb auf einer Lichtung, umgeben von einem dichtem Wald, zur Ruhe kam. Er setzte sich auf einen Stein und löste die Schnur von dem so prallen Sack, der zu seinen Füßen auf dem Erdreich lag. Kaum wagte er zu schnaufen, in Erwartung auf die Geschehnisse.
Der Traum kam bald mit schwebenden Bewegungen aus der Öffnung hervor, hob ein wenig ab und verharrte im ersten Morgenlicht. Regungslos blickte der Dieb in den Traum hinein. Er sah die Luftballons in allen Farben, Schaukeln am Himmel, die zu fliegen schienen, Elfen und Könige in einem Märchenland, Prinzessinnen von Zwergen begleitet und kleine Mädchen mit Blumen im Haar. Kinder auf einem Schiff, die glücklich spielten und fortwährend lachten. Der Dieb jauchzte und jubelte dabei, klatschte unermüdlich Beifall, strampelte mit den Füßen in wildester Manier.

Aber als die Sonne aufging, wurde der Traum undeutlich, zerbrach auf einmal in lauter winzige Fetzen, die sich in Luft auflösten. Stille kehrte ein. Betroffen saß der Traumfänger eine Weile lang so da. Er fiel auf die Knie und warf sein Gesicht in die aufgeschlagenen Hände. Ein grässliches Winseln drang aus seinem Leib.

 

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Montag 18. Oktober 2010
 

Tram



Ich bin ein Pendler und sitze im Waggon der Eisenbahn. Meine Arbeit ist für heute getan und ich bin auf dem Weg nach Hause. Alle Weichen höre ich schlagen, der dumpfe Lärm macht mich müde, so döse ich bald mit halb geschlossenen Augen vor mich hin.
Ein junger Mann grüßt mich wortlos nickend und setzt sich mir gegenüber auf die Bank. Sein blasses, etwas eingefallenes Gesicht ist mir bekannt. Ich frage mich, wann er mir das letzte Mal begegnet ist. Wochen muss es her sein. Früher sprachen wir gelegentlich ein paar Worte miteinander, so wie es Pendler mitunter gerne tun, aber heute scheint er mir kein geselliger Mensch zu sein.
Er hat die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sieht zum Fenster hinaus. Seine Stirn liegt in Falten, als trage sie große Sorgen hinter sich. Die Augen blicken ohne Leben auf die vorbeiziehende Welt. Sie erinnern mich an die toten Blicke der präparierten Tiere, die ich neulich im Museum sah. Er ist in seinen Gedanken verloren und ich möchte mehr über ihn erfahren, obwohl er mir eigentlich ein Fremder ist.
Schweigend sitzen wir eine Weile so da. Der Zug frisst an meiner Strecke, Stück um Stück. Der Bahndamm führt an einer Schule vorbei, unmittelbar davor spielen Kinder in einem Pausenhof. Als mein Bekannter die Kinder sieht, nimmt er die Hände aus den Taschen und ich sehe, wie seine Finger zittern. Auch das ist mir wohl bekannt.
„Im Herbst kommt mein Mädchen in die dritte Klasse“, sagt er ohne Mut in den Worten. Mehr zu sich selbst, aber vielleicht doch in der Hoffnung, in mir einen Freund für den Augenblick gefunden zu haben.
Ich sehe, dass er mit seinen Tränen ringt.
„Und wissen Sie, heute hat mein kleiner Sonnenschein Geburtstag.“ Der Mann sagt es, als wolle er sich bei mir entschuldigen.
Er versteckt das Gesicht in den Händen und ich höre sein Schluchzen. Ich fühle mich auf einmal verantwortlich für ihn und frage, als wäre er mein Freund: „Was ist geschehen?“
Der arme Mann sieht mich an, als wäre er jemand, der sich nicht sicher ist, ob er mit seinen Tränen alleine bleiben möchte. Kleinlaut sagt er jedoch:
„Mein ganzes Leben war ich nicht viel wert. Nur gesoffen habe ich und herumgehurt. Trotzdem hat sie mich geheiratet, als das Kind unterwegs war, ich versprach ihr, mich zu bessern. Eine Zeit lang ging es auch gut, vor allem, als Katja zur Welt kam, aber ich war nicht lange ein anständiger Kerl. Wissen Sie, ich bin nur ein einfacher Arbeiter. Überall drückte es und ich begann wieder zu trinken, ich meine, so richtig zu trinken. Dann, vor etwa zwei Monaten …, da war eine andere Frau …, und meine Frau hat’s erfahren.“ Er verstummt für einen Atemzug. „Sie hat geweint und mich weggeschickt, sie möchte mich nicht mehr sehen.“
Gequält betrachte ich das Häufchen Elend vor mir. „Ich trinke manchmal auch zu viel“, gebe ich kläglich als Trost zurück.
„Ich brauch es nicht mehr!“ Trotzig funkeln seine Augen. „Ich war einen Monat auf Entzug und ich werde mein ganzes, mein ganzes verdammte Leben lang keinen Alkohol mehr anrühren“, er stockt etwas, „auch, wenn ich bereits verloren habe.“
Er ist jung denke ich, er könnte es schaffen. Ich beuge mich etwas vor und sage vertraut: „Ihre Tochter hat doch heute Geburtstag, besuchen Sie Ihr Kind.“
Sein Gesicht verfinstert sich. Sein Kopf senkt sich. „Nein, ich schäme mich. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich …“, er sucht nach Worten und sagt auf einmal, als hätte er es für sich selbst verstanden, „… vor meiner Familie schäme. Ich hab Katja einen Brief geschrieben und sie um Verzeihung gebeten, das Papa krank und in Behandlung ist, und wie sehr er sie lieb hat.“
Nun ist der Mann mit seinen Nerven völlig am Ende; er holt tief Luft und stößt sie pfeifend wieder aus. Er sagt kein Wort mehr. Er tut mir leid und ich schweige mit ihm aus großer Verbundenheit.
Wie gewohnt, steigt er zwei Stationen vor mir aus. Mit hängenden Schultern geht er am Bahnsteig entlang. Armer Kerl überlege ich, während sich mein Waggon wieder ruckartig in Bewegung setzt. Auf einmal bleibt der junge Mann stehen, als wäre sein Körper in der Bewegung gelähmt. Ich folge seinen Blicken und sehe bei der Bahnstation eine junge Frau stehen. Ein kleines Mädchen ist an ihrer Seite. Das Kind hält einen Brief in der Hand und winkt.
Ich lächle etwas und winke dem Mann aufmunternd zu, aber er sieht mich nicht. Er wird es schaffen, denke ich bei mir und bin zufrieden. Ich weiß, wie es ist, wenn man es nicht schafft. Ich lehne mich wieder zurück. Der Zug fährt ab und nimmt mich mit. Immer weiter.

 
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Freitag 10. September 2010
 


Unter der Zirkuskuppel, in einer unverschämten Höhe und winzig klein, sitzt der Trapezkünstler auf der Schaukel und holt mit spitz nach vorn gestreckten Beinen zu wuchtigen Schwüngen aus. Mit weiß bemaltem Gesicht, als wär er ein Harlekin, taucht der Akrobat seinen Körper mit wilder Entschlossenheit gegen die Schwerkraft an. Famos, wie sein Haar so weht in windiger Höh'. Zigarrenqualm nobler Herren vergeht in der Luft, verwandelt das Spektakel bald gar in eine Geister- und Dämonenshau.
Auf den Plätzen und Schößen der Tribüne mit offenem Munde ein jedes Kind seinen Kopf im Takte der Schaukel wiegt, bewundernde Blicke junger Frauen, steif im Rücken und gerade sitzend, manche gar heimlich in den Künstler verliebt.
Ein Mann mit krummen Beinen und Zylinderhut in die Manege stürmt, um seine schwarzen Stiefel ein kleines Hündchen springt. Es muss wohl der Zirkusdirektor sein. Mit fuchtelnden Händen er das Trommelspiel verstummen lässt. Elektrisches Knacken, grelles Licht, ein blitzender Scheinwerfer den zweiten Akrobaten an der Decke erwischt.
Gleich einem andalusischen Senor trägt er eine Rose im Mund und verbeugt sich mit ausgestrecktem Arm im Scheinwerferlicht.
Graziös lässt er sich auf seine Schaukel fallen. Ein dünner Strick zerreißt und der Spanier eilt mit schnell zunehmender Fahrt seinem Compadre entgegen.
Auf halbem Wege, die Menge ist entzückt, hängt er auf einmal kopfüber im Raum und streckt dem Harlekin die Hände zu.
Wie ein Falke im Flug, aber doch flehenden Blickes, schießt dieser an ihm vorbei und schlägt einen Atemzug später im Sande der Manege auf.
Stille, die Menschen werden blass. Nur das Geräusch der Schaukeln, ein zartes Ächzen und Singen, als wehe Wind, lässt an das Leben erinnern. Der Spanier hoch oben im schaukelnden Hin und Her, seine Arme hängen wie leblos herab und die Rose aus seinem Munde zu Boden fällt.



Gekentert


Was kümmerte den blutjungen Matrosen, der alleine und von jeglicher Zuversicht verlassen auf einer dicken Holzplanke inmitten des Pazifischen Ozeans trieb, das farbenprächtige Spektakel einiger Kumulus Wolken im Abendrot. Und wie lächerlich schien ihm der Gedanke dabei, dass vielleicht gerade in diesem Augenblick, tausende Kilometer von ihm entfernt, sein Mädchen auf das Meer hinaus sah und einen Kuss auf Reisen schickte. Ihn wohl behütet dachte, von einem Kapitän, der zeit seines Lebens den Gefahren auf See verbissen entgegen getreten war, aber nun doch so leblos und endgültig, wie ein toter Fisch auf dem Grund des Meeres lag.
Niemals war ihm das eigene Leben wertvoller erschienen, Gott allmächtiger und die Sehnsucht nach einem Menschen größer, als in diesen Tagen zwischen den Wellen ohne Courage.
Regelmäßig, mit kleineren Ruhepausen, stießen seine Hände in das Wasser hinab; in die ihm so fremde Welt, die lauwarm und seinem Leben in gewisser Weise freundlich gesonnen war, in diesen scheinbar erfrischenden Glanz. Bei alledem war er aber in trübster Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, dass seine geschwollene Zunge am Gaumen klebte, wie ein Klumpen heißer Kohle, welcher die letzte Hoffnung verbrannte, die noch in ihm vorhanden war.
Das Fieber kam in der zweiten Nacht, bei Sternenlicht und spiegelglattem Meer. Er begann zu frieren und sah ein Schiff, das oben am Himmel vor Anker lag, bald einen Engel, der ihn aus dem Wasser schöpfte, wie einen Kloß aus warmer Brühe. Ein Husten plagte ihn, er spuckte kleine Herzen, unaufhörlich, und die Delfine lachten.
Kaum noch merklich am Leben schwemmte ihn die Meeresströmung am dritten Tag an den Strand einer exotischen Insel. Im Lärm der Brandung kam er zu sich. Wie ein Wurm kroch der Jüngling in den Schatten einer Kokospalme und zum ersten Mal in seinem Leben spürte er eine tiefe Dankbarkeit.
Gerettet, dachte er bei sich. Das Leid war für immer überstanden.
Ein wenig zu Kräften kommen, wollte der geschundene Mensch. Sich ein bisschen ausruhen und später auf den Weg machen, die nächste Ansiedlung aufsuchen, aber ein fürchterlicher Blitz riss ihm die Haut und das Fleisch von den Knochen.
Über dem Bikini-Atoll breitete sich in atemberaubender Schönheit der Atompilz aus.
 


Donnerstag 05. August 2010
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Der Walfisch und die Indianerin
 

Der Junge sagte, dass ihm das Mädchen folgen möge. Er wisse von einer Welt, die wunderschön sei, draußen auf dem Meer, man brauche nur in sie einzutauchen und alles würde schwerelos. Das Mädchen meinte, es fürchte sich vor dem Meer und der Tiefe und am meisten vor der Finsternis, und dass es ein Kind der Sonne und allen Lichtes sei. Der Junge versuchte seine Träume und die Schwerelosigkeit zu vergessen, dabei hielt er für lange Zeit die Hand des Mädchens. Aber einmal kam das Licht ganz nahe und als es wieder ging, da trug es das Mädchen mit sich fort, dorthin wo die Sonne war. Der Junge blieb alleine zurück und war zum ersten Mal in seinem Leben traurig. So schwamm er auf das Meer hinaus und weit draußen angekommen, tauchte er in die Tiefe ab. Auch als seine Luft zu Ende ging, blieb er unten in der Dunkelheit. Es wuchsen ihm Flossen und er brauchte nicht mehr zu atmen. Nur manchmal kommt er noch nach oben an das Licht und die Farben. Dann blickt er hinauf in die Sonne und sucht nach seinem Mädchen. Doch dann lässt er sich wieder lautlos sinken. Nur ein glitzernder Blas und ein leichtes Kräuseln der Wellen lassen die Menschen von ihm wissen.

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Die Geschichte von Oskar


„Oskar!“

Sie ruft schon wieder meinen Namen. Es ist eine Plage mit ihr. Die Frau weiß doch, dass ich hier bin.

„Oskar!“

Es macht mich müde. Den ganzen Tag ruft diese Frau meinen Namen, ich kann ihn schon beinahe nicht mehr hören. Ich habe schon längere Zeit den Verdacht, es bereitet ihr eine große Freude, meinen Namen auszurufen. Jeden Nachmittag zwischen drei und fünf Uhr schiebt sie mich auf diese Terrasse und lässt mich im Schatten der Bäume alleine sein. Nur meinen Namen, den ruft die Frau viertelstündlich, als möchte sie Gewissheit haben, dass ich noch da bin oder noch ein bisschen lebe. Als fürchte sie, ich könnte mich entfernen, vielleicht sterben, ohne ihr irgendwelche Umstände zu bereiten, sie im Unklaren darüber lassen.
Wie lächerlich. Ich gebe ihr keine Antwort.
Es ist ein Kreuz mit ihr, wie mit dem alten Körper, in dem ich verrotte. Meine Arme und Beine wollen nicht mehr so recht. Nur meine Hände, ja, meine braven Hände, unermüdlich sind sie, ohne dass ich etwas von ihnen möchte oder sie um etwas bitte. Sie flattern wie Segel im Wind, die man anzubinden versäumt hat.
Mein Gehör ist nicht mehr so gut, wie es früher einmal war, aber meine Augen sind noch einigermaßen tauglich.
Durch die Lücken zwischen den Bäumen blicke ich auf das Meer hinaus. Was ist der Himmel schwarz dort draußen und wie krachen die Wellen auf den Strand vor meinem Haus. Man könnte meinen, der Teufel ist vor die Küste gekommen und die Hölle hat er gleich mitgebracht.
Auf dem Weg vor meiner Terrasse sehe ich einen jungen Menschen. Joseph ist sein Name, habe ich gehört. Ein Zeitgenosse, den mancher für ohne großen Nutzen hält. Er beachtet mich nicht, weshalb sollte er auch. Er befördert sich an mir vorbei, was eine mühselige Arbeit für ihn ist, denn es fehlen ihm beide Beine.
Wenn man den kleinen, zähen Kerl von rückwärts ansieht, wie er sich auf einem Deckel aus Blech fortbewegt, die Fäuste seitlich in den Sand rammt, mit einem Ruck seinen Körper hochstemmt und mit ungeheuerlicher Kraft, die mich mit Neid erfüllt, einen Schritt weiter nach vorne wuchtet und dies, ein um das andere mal, dann glaubt man, es werde überhaupt nicht möglich sein, dass er in kürzester Zeit seine Schale nicht verliert, aber es scheint mir, sie ist mit ihrem Besitzer zusammengewachsen.
„Halt, bleib stehen!“, sage ich laut.
Der Jüngling mit den hässlichsten Gesichtszügen, welche die Natur wohl je einem Menschen verliehen hat, kommt zum Stillstand. Ich hebe meine zitternde rechte Hand und winke ihn herbei. Er ist folgsam und hüpft auf seinem Blechhinterteil an meine Seite.
Ich betrachte ihn ausgiebig. Nach einer Weile stelle ich ihm die mir so wichtige Frage:
„Junger Freund, möchtest du mit mir tauschen?“
Er sieht mich an, als hätte er meine Worte gehört aber sie nicht verstanden. Ich beuge mich weit nach vorn, als sei er mein engster Vertrauter und bester Freund.
„Sag, willst du mit mir tauschen, dein Leben gegen das meine? Die Insel, sie gehört mir. Soweit du sehen kannst, es ist mein Eigentum. Du kannst alles für dich haben.“
Sein Gesicht wird sehr ernst. Er sagt nichts, aber dann sieht er mich an, als sei ich nicht ganz bei Troste, und er macht, dass er davon kommt.
Ich bin in Versuchung ihm hinterher zu rufen, ihm zu sagen, dass es nur ein Scherz war, mit ihm darüber zu lachen, aber ich kann es nicht und ich möchte es auch nicht.
 




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Freitag 04. Juni 2010



Der Kapitän



Wenn pflichtbewusste Männer im Ozean auf schwankendem Schiffe von einem noch pflichtbewussteren Kapitän monatelang ohne Unterbrechung von einem Meer in das andere getrieben werden, auf dem höchsten Mast - mitunter vorne am Bug mit beschattenden Händen - rundum die leeren Weiten absuchen müssen, in der Zuversicht ihres Herrn eines Tages Land zu erspähen, und es einmal tatsächlich geschieht, dass sich eine Insel immer größer und hoffnungsvoller aus den Fluten in Breite und Höhe auftut, die Männer die Segel streichen, den Anker mit armdicker Kette aus der Luke lassen, alles zum Stillstand kommt und ein Boot zu Wasser geht, in der Brandung gerudert wird, die Mannschaft mit bebenden Lippen das Land betritt; dann wird wohl ein jeder, der auf dem Schiff zurückgeblieben ist, schwer auf seinem Bauche liegen, das Haupt mit beiden Armen umfassen und bitterlich zu weinen beginnen.




Samstag 06. Februar 2010



Der Bettler


Jeden Tag sitzt er an der gleichen Straßenecke. Oftmals gehe ich an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht bemerken, aber eines Tages bleibe ich stehen.

"Sagen Sie mein Herr, haben Sie denn keinen Hut?"

Er hebt seine Augen und sieht mich an. "Warum sollte ich einen Hut tragen?"

"Nicht zum Tragen", sage ich nachsichtig, "einen, den Sie vor sich auf das Pflaster legen, damit der eine oder andere wohlwollende Mensch sein Mitleid bekunden und es klimpern lassen kann. Eine kleine Schüssel aus Blech, wenn möglich arg verbeult, erfüllt denselben Zweck."

Er blickt mich erstaunt an. "Ich bin doch kein Bettler, wie kommen Sie auf diesen abwegigen Gedanken?"

"Ja, ich dachte …, ich glaubte …, was treiben Sie sonst hier auf der Straße?"

Beinahe mitleidig sieht er mich an. "Aha, so denken Sie also über mich. Da irren Sie aber gewaltig, mein lieber Freund. Ich sitze nur hier, weil ich überzählig geworden bin. Es hat mich im Leben ausgehoben und ich brauche mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Keine Arbeit wartet auf mich und darum sitze ich hier. Es ist mein Glück und mit niemandem möchte ich tauschen."

"Aber sagen Sie", werfe ich ein, "stört es Sie denn nicht, wenn die Menschen immer so schräg auf Sie hinunter schauen?"

"Nein, keineswegs, es kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet. Nehmen Sie Platz und sehen Sie selbst, mein Herr."

Ich schaue nach links und rechts und setze mich.
Als ich eine Zeit lang da so neben ihm sitze und hinauf zu den vorbeigehenden Menschen sehe, wird es mir begreiflich, was er meint. Auf einmal bin ich für niemanden von Interesse. Ein seltsames, leichtes Gefühl, das sich nirgendwo einordnen lässt, macht sich in mir breit.

Er bemerkt mein Staunen. Wir freuen uns zusammen und tuscheln hinter vorgehaltener Hand, wie zwei Diebe, die mit ihrem Tuscheln alleine sein möchten.

Nach einer Weile sagt er zu mir, dass meine Kleider zu vornehm seien, und dass ich das Gefühl mit all seinen Vorzügen nicht völlig auskosten könne. Aber er ist klug und weiß Rat. Wir tauschen unsere Sachen und ich gestehe mir ein, er hat recht. In seinen Lumpen finde ich es grandios.

Auf einmal steht er auf und sagt, er wolle sich die Füße ein wenig vertreten. Er geht davon und ich sehe ihm hinterher.

Es dauert jedoch nicht lange und er kehrt zurück. Er hat ein bisschen Brot und Wurst mitgebracht. Er setzt sich wieder neben mich und wir lassen es uns schmecken.

 


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Samstag 30. Jänner 2010

Gestrandet

 

Vierzehn Gräber auf einer Insel und das Meer spült tote Fische ans Ufer. Menschen tragen Sonnenbrillen, gehen blass auf den Straßen. Die Zeit lässt sie vergessen. Tote stehen nicht mehr auf, Tote liegen brav, vierzehn Mal am Tag. An einem Sonntag spielten Kinder und es wurde auf einmal still im Wind. Soldaten ohne Uniformen, Patrioten ohne einen Fetzen Land. Wo ist sie geblieben, die Heimat, von der sie träumten? Sie krochen, windeten sich, wie die Würmer und grüßten die fremde Brut, unsere Schwestern und Brüder. Mit den eigenen Händen erschlugen sie ihren Traum. "Hinfort mit dem Blut, der Sonntag vergeht, wie das Licht am Himmel, wenn sich die Nacht über uns verbreitet."
In Galway, in einer Bar, steht sie da und stellt ihre Schönheit zur Schau. Sie nimmt mich ins Gebet und ich sie mit zu mir, für den Augenblick. Nackt liegt sie vor mir und ich nehme ihr die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Sie sieht die Toten in einem Meer aus Blut und die Knochen in der Erde und meinen Fluch. Sie hält meine Hand und ein Stück meiner Seele und dann fängt sie an zu zittern und zu weinen. "Das Blut geht nicht weg, es wird nie vergehen", sage ich, und schicke sie wieder fort, zu den anderen, die ich nicht mehr sehen kann.
 



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Sonntag 10. Jänner 2010

Ängste



Es gibt Zeiten, genau so hoffnungslos und hoffnungsvoll, in denen ich mich vor den Menschen fürchte. Ich weiß nicht, ist es an den Menschen oder kommt es aus mir. Ich sehe Treppen und Höfe, dann wieder einen Palast; und so weiter in den Jahren; und stürze ich endlich in die Mitte der Welt, dringt niemand in mich ein; so gehe ich zurück in die Botschaft meines Denkens, tiefer als je zuvor. Ich erinnere mich an die, die draußen sind und es macht mich einsam, einsamer als je zuvor. Bin ich zu jemandem geworden, der überzählig ist? Hat sich mein Treiben dem Nutzlosen ergeben? Bin ich ein Diener, ein sinnloser Diener meiner Verständnislosigkeit? Ich habe gelernt zu leben und zu erkennen, aber niemand brachte mir bei, zu verstehen. Es ist aussichtslos. Niemals ist ein solch Überzähliger errettet worden und niemals wird etwas Derartiges geschehen. Was bleibt ist der Tod, oder der Wahnsinn nimmt mich mit, dorthin, wo es kein Verstehen braucht. Ich werde älter, alte Menschen werden grausam. Grausame Gestalten ziehen an meinen Armen und an meinen Beinen, ihre Lippen saugen sich an mir fest. Ich betrachte mich selbst, wie ich zerfalle, wie das vergeht, was mich immer begleitet hat:

mein Glaube.

Es bereitet mir keine Schmerzen, Gefrorenes kann nicht leiden, nur zerspringen und alles ist erträglich, nur eines ist es nicht:

meine Sehnsucht.



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Freitag 08. Jänner 2010

Der Zirkus

Es ist Spätsommer, ein Tag in den frühen Morgenstunden. Zwischen süßen Gräsern und Laubgehölz ziehen Bauersleute mit ihren Karren auf das Feld hinaus. Ein kleines Mädchen trägt einen Korb; hie und da bleibt es stehen, bückt sich und zupft eine Blume aus. Zwei Soldaten – einer bedient das Motorrad, der andere sitzt im Beiwagen – holpern auf dem Feldweg vorbei und hoch oben kreist ein Bussard vor sich hin. Auf einer Lichtung im Korn, einem verbrannten Stück Erde gleich, erheben sich Gebäude umgeben von einem fahlen Mauerwerk.
Das Lager liegt ruhig, nur ein Hund bellt von Zeit zu Zeit. Von den Dächern steigen Dunstschwaden in den wolkenlosen Himmel hinauf. In einer großen, länglichen Baracke stehen Menschen beieinander. Durch das Fenster dringen erste Sonnenstrahlen ein und ein älterer Herr fragt mit anteilnehmender Stimme: „Sagen Sie, gute Frau, was hat das Kind?“
„Es liegt im Fieber, die Nacht war schlimm, aber es ist mir, als wäre es überstanden.“
Unruhig dreht der Junge sein Gesicht, die Augen glänzen, als er zu sprechen beginnt: „Mutter, sag mir bitte, was du draußen vor dem Fenster siehst, was geschieht?“
„Mein Sohn, so weit ich sehen kann, ich erblicke lauter Wagen von stampfenden Pferden gezogen. In welcher Disziplin die Rosse im Gespann einhergehen, bunte Federn tragen sie auf ihren Häuptern und die Fuhrwerke, ich sag’s dir, herrlich geschmückt und überall sind Fahnen. Leute, hundert, nein tausend springen ausgelassen auf der Straße. Sie tanzen und singen, und da, ich seh’s so deutlich, als wär ich unter ihnen, da ist ein Clown, dort ein zweiter und ein dritter, ein vierter. Sie schlagen Räder, zaubern lustige Sachen aus ihren Hüten und fortwährend bewerfen sie die Menge mit unzähligen Blüten. Sie winken zu uns her, ich seh's ganz deutlich, sie meinen uns hier, hinterm Fenster.“
„Mutter, siehst du wilde Tiere dabei?“
„Ja, wilde Tiere, eins nach dem anderen! Kamele, Elefanten, unvorstellbar in ihrer Größe und gewaltig. Und dort, in den Käfigen, ein Löwe, ein Bär und zwei Tiger, wie ihre Zähne blitzen, zum Fürchten ist es. Dem Himmel sei's gedankt, sind sie alle hinter Gitter, aber der bloße Anblick, als hätten sie Feuer im Mund, ich sag's dir, beinah' unerträglich ist mir diese Wildheit.“
„Mutter, sag’s schnell, was siehst du noch?“
„Ja, mein Junge, sie bleiben stehen, mitten auf der Straße! Viele Hände arbeiten unentwegt, ein Gerüst wird aufgestellt, und da, eine große Plane auseinander gelegt. Kind, jetzt weiß ich’s, es ist ein Zirkus, der gekommen ist! Hörst du sie, hörst du, wie die Menschen jubeln?“
„Mutter, ach liebe Mutter, bitte geh’ mit mir dahin.“
„Ja mein Sohn, dorthin wollen wir gehen, bald, wir werden uns schön machen und die besten Kleider anziehen und dann gehen wir, ich versprech es dir.“
„Mutter sieh, ein Mann tritt ein, er winkt so fordernd in den Raum, als hätte er großen Unmut. Sag, was möchte er von uns?“
„Ach Junge, du irrst dich, der Herr will uns nur den Weg zeigen, dorthin, wo sich die Waschräume befinden. Komm, ich trage dich.“
„Ja, Mutter“, lächelt glücklich das Kind.



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Mittwoch 06. Jänner 2010


Großstadtfreunde

 

Immer mehr in letzter Zeit hoffe ich auf das Läuten an der Haustür, aber die Klingel schweigt. Es ist mir seltsam im Raum der Wohnung. Ich sitze am Tisch und rauche, denke über dies und jenes nach und betrachte den Schneefall draußen vor dem Fenster. Das ist wohl ein Fehler, aber es fällt mir nichts Besseres ein und so langweile ich mich dahin, ohne etwas zu verändern. Ich bin kein geselliger Mensch, bemerke jedoch, dass ich mir die Zeit mit Gedanken über andere Menschen vertreibe. Ich bin also grundsätzlich nicht anders, als jeder andere Mensch. Nur die Mischung der Elemente ist verschieden, ein jeder verfügt über sein persönliches Verhältnis.
Im Treppenhaus, im allgemeinen Hauptquartier des Lärms, höre ich laute Schritte und dann eine vertraute Stimme.
„Hey, du Exote, mach schon die Tür auf!“
Es ist Sarah, die ungeduldig gegen meine Abgeschiedenheit drängt. Ich klinke die Tür auf und sie wirft sich an meinen Hals.
„Was willst du Sarah, das Übliche?“, sage ich und lasse mich auf das Bett fallen, als wäre es meine Rettungsinsel.
Ohne Zeit zu verlieren, schlüpft sie aus ihren Sachen und legt sich neben mich. „Das Übliche“, säuselt sie, „ein bisschen Sex und ein Stück von deiner Brust zum Anlehnen.“
Ich betrachte ihren Kirschmund und sage mir: „Wie eigenartig ist dieser Mensch! Wie bezeichnend und deutlich ist ihre Gleichgültigkeit gegenüber meinen Gefühlen. Sie ist zufrieden und das ist die Art ihrer Zufriedenheit, alles natürlich zu finden, was geschieht. Für eine kleine Zeit nicht denken, bieder und genormt zu sein. Ihre Zufriedenheit des Augenblicks macht sich nichts aus meinem Elend. Aber sie kann mich nicht täuschen; es ist eben doch nur ein Pfeifen, welches sie produziert.
Wir kommen zur gleichen Zeit und es wird uns gleichzeitig schlecht. Wie immer. Wir rauchen noch eine Weile. „Adieu“, sagt sie, „es war schön“, lügt sie uns beide an und geht zurück zu ihrer Familie.
Ich schließe ab hinter ihr, setze mich wieder an den Tisch und warte. Eines Tages werde ich diese Stadt verlassen.


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